Immer mehr Kinder werden sehr „frei“ erzogen. Damit meine ich, dass Kinder schon früh selbstbestimmt Entscheidungen treffen dürfen. Ob heute die roten oder blauen Schuhe angezogen werden, ob heute ein Besuch im Schwimmbad oder im Tierpark ansteht oder auch, was es heute zu essen gibt, entscheidet das Kind.

Sollen Kinder schon früh lernen eigene Entscheidungen zu treffen?

Welche Auswirkungen hat dies auf die Entwicklung des Kindes?


Selbstbestimmte Kinder

Eine Pädagogin, die im Hort als Kinderbetreuuerin arbeitet, hat erzählt, dass sie früher ein Programm für die Kinder zusammenstellen durfte. Die Eltern und auch die Kinder wussten, was, wann ansteht. Mittlerweile durch diverse Reformen und Einsprüche der Eltern ist sie mittlerweile nur noch Aufpasserin. Eingreifen darf bzw. soll sie kaum. Die Kinder entscheiden, was sie machen wollen und die Erzieherin stößt dazu, wann es dem Kind passt. Sie selbst ist sehr enttäuscht, dass sie ihre pädagogische Ausbildung nicht einsetzen kann, was die Frau als sehr frustrierend empfindet. Auch die Autonomie der Kinder empfindet sie als negativ, da die Kinder sie mittlerweile nicht mehr eingreifen lassen. Die Erzieherin ist keine wegweisende Struktur mehr und dient nicht als Vorbild und Orientierung sondern als letzte Instanz zur Unterstützung bei Problemen. Anweisungen werden kaum befolgt. Vorgaben und Richtlinien werden nur schwer akzeptiert.

„Ich mache mir wirklich Sorgen, wenn ich daran denke, dass diese Generation mich im Alter versorgen muss“

Dieser Ansatz der „autonomen Kinder“ verbreitet sich in Schulen, Betreuungseinrichtungen bis hin in die privaten Wohnzimmer, wo der Großteil der Erziehung stattfindet.


Entstehung

Da viele Eltern von heute gerne als Kind mehr Möglichkeiten sowie Freiheiten gehabt hätten, möchten sie ihren Kindern ein „schöneres“ Leben ermöglichen. Dabei lassen sie viele wertvolle Aspekte der sozialen Entwicklung des Kindes außer Acht.

Denn Kinder brauchen Strukturen, Vorgaben, Routinen, Regeln und Richtlinien, um sich altersgerecht entwickeln zu können. Fehlen diese, bleibt das Kind auf einer Entwicklungsstufe stehen.

Kinder entwickeln sich nicht von alleine.

Unrechtsbewusstsein, Verantwortungsbewusstsein, Arbeitshaltung, Manieren, Empathie und Frustrationstoleranz entwickelt kein Kind von alleine, wenn man es einfach „machen“ lässt.

Sehr oft erlebe ich, dass Kinder sich mit 10 Jahren noch wie Säuglinge verhalten, die nur Angenehmes akzeptieren wollen und bei Unangenehmen nicht in der Lage sind sich zu beherrschen, still zu sitzen oder sich zu überwinden. Denn in jungen Jahren sind Kinder „lustorientiert“. Sie können keine Konsequenzen abschätzen, treffen Entscheidungen aufgrund von Lustgewinnung oder -vermeidung. Erst ab der Pubertät soll das Kind (langsam) lernen eigene Entscheidungen zu treffen aber dann auch durch die folgenden Konsequenzen dazu lernen dürfen. Hier sind es jedoch auch nur einige Teilbereiche, in denen das Kind die Verantwortung bekommen sollte. Wer jedoch auf die Idee kommt 3-jährigen die Verantwortung zu übergeben, darf mit nicht anpassungsfähigen, verhaltensauffälligen Kindern rechnen. Denn das Verhalten eines Säuglings, der bei Hunger (unangenehm) so lange schreit bis er erlöst wird (angenehm), zieht sich durch die weitere Jugend bis hin in das Erwachsenenalter.

Der Fokus liegt auf der sofortigen Lustbefriedigung.

Ein vorausschauendes Denken, die Fähigkeit geduldig zu sein und zu warten sowie die eigenen Bedürfnisse hintenanzustellen, ist nicht möglich.  Was dies für das Privat- sowie Berufsleben in der Zukunft bedeutet, ist abzusehen. Wenn dies nicht in jungen Jahren gelernt wird, wird es als Erwachsener nicht wie von Zauberhand erlernt werden.

Ohne das notwendige Wissen, wie es einem heranwachsenden Kind später gut geht, machen viele Eltern wohlwollend die Bedürfnisse ihres Kindes zum Dreh- und Angelpunkt. Dies passiert ohne dem Wissen über die Entwicklung der sozialen und emotionalen Psyche.

Deshalb habe ich hier eine grobe Struktur zur Entwicklung der Psyche zusammengefasst. Diese ist stark vereinfacht und hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit.


Entwicklung der emotionalen und sozialen Psyche

Säugling Unterscheidung zwischen angenehm und unangenehm. Hier ist es wichtig, dass der Säugling so schnell wie möglich aus unangenehmen Situationen (z.B. Hunger, volle Windel) befreit wird. Der Säugling schreit, sobald er sich unwohl fühlt. Mutter und Vater bringen ihm Erleichterung. Wird das Baby längere Zeit nicht aus dem unangenehmen zustand befreit, hat das Konsequenzen auf die weitere Entwicklung.
Ab 1 Jahr Es gibt Menschen und es gibt Gegenstände. Menschen reagieren auf mich. Menschen steuern mich (nicht umgekehrt!). In fremder Umgebung fühle ich mich unwohl. Das Kleinkind sucht den Schutz der Eltern.
Ab 2 Jahren Es gibt Menschen, die größer und stärker als ich sind (z.B. Jugendliche)
Ab 3 Jahren (Kindergarten) „Selbstbild“ – Ich bin ein Mensch. Klare Zuordnung von Bezugspersonen: Mama, Papa, Erzieherin, Oma … An diesen Personen orientiert sich das Kind und achtet auf die Reaktionen z.B. „Das hast du gut gemacht!“, „Nein, das darfst du nicht!“ Strukturen, Abläufe, Regeln werden erkannt. Die Bezugspersonen bieten Schutz und dienen als Vorbild. Das Kind muss einiges für (!) die Eltern und Erzieher (Kindergarten) machen. Das tut es gerne, da sie diejenigen sind, die das Kind beschützen, umsorgen und ernähren.
Ab  5 Jahren Unterscheidung zwischen gut und schlecht. Abläufe und Strukturen geben Halt und Sicherheit.
Ab 6 Jahren

(Volkschule)

Kinder wollen lernen. Der Lehrer wird als neue Bezugsperson erkannt und das Kind richtet sich nach dieser aus. Für den Lehrer muss einiges getan werden (z.B. Hausübung, still sein …). Das Kind erkennt den Unterschied zwischen Unterricht und Pause und verhält sich dementsprechend anders. Regeln werden erkannt und verinnerlicht.
Ab 14 Jahren Menschen sind fehlerhaft und haben Schwächen (z.B. Eltern, Lehrer …). Die Welt ist nicht perfekt. Zuvor akzeptierte Dinge, werden hinterfragt. Was einst zur Orientierung diente, wird „entzaubert“.
Ab 15 Jahren Ich bin ein Individuum, ich habe eine eigene Meinung, eigene Vorlieben und darf auch Geheimnisse haben. Ich muss mich nicht jedem öffnen.
Ab 16 Jahren Auch ich habe Schwachpunkte. Ich hinterfrage mich. Wo möchte ich mich hin entwickeln? Wie soll meine Zukunft aussehen? Was will ich?

 

Zusammenfassung

Die modernen pädagogischen Grundsätze sind zu hinterfragen. Denn hier wird auf die Entwicklungspsychologie vergessen, die maßgeblich für das gesunde Aufwachsen von Kindern nötig ist. Denn Kinder brauchen Strukturen, Vorgaben, Routinen, Regeln und Richtlinien. Fehlen diese, bleibt das Kind auf einer vorherigen Entwicklungsstufe stehen. Unrechtsbewusstsein, Verantwortungsbewusstsein, Arbeitshaltung, Manieren, Empathie und Frustrationstoleranz entwickelt kein Kind von alleine, wenn man es einfach „machen“ lässt.


Quelle:

Warum unsere Kinder Tyrannen werden: von Michael Winterhoff und Carsten Tergast, Goldmann Verlag; 1. Edition, ISBN-10 ‏ : ‎ 3442171288, 2009